Ballett von Silvana Schröder
Thüringer Staatsballett 2018/19
Theater Erfurt, Theater & Philharmonie Thüringen
Bühne und Kostüme _ Verena Hemmerlein
Fotos _ Lutz Edelhoff, Dieter Leistner, Ronny Ristok
Pressestimmen
TZ / TA / OTZ Kultur – 12.11.2018 – Sabine Wagner
Giselles Tanz in den Wahnsinn
Silvana Schröder inszeniert das romantische Ballett als schockierendes Psychogramm einer gequälten Seele – Viel Beifall für die erste Premiere des Thüringer Staatstabletts im Theater Erfurt
Silvana Schröder, seit 2013 Cefin des Thüringer Staatsballetts am Theater Altenburg Gera, ist bekannt für ihre ganz eigene wie eigenwillige Sicht auf berühmte Ballettklassiker. (…)
In ihrem neuen Ballettabend wagt sich Silvana Schröder nun an das Romantische Ballett „Giselle“ zur Musik von Adolphe Adam nach einer durch Heinrich Heine überlieferten Sage von Geisterwesen, die in der Nacht treulose Männer zu Tode tanzen.
Samstagabend feierte die erste Koproduktion mit dem Theater Erfurt Premiere in der Thüringer Landeshauptstadt. Eine Premiere die berührte, schockierte, wenig Romantisches hatte und vom Publikum dennoch mit viel Applaus bedacht wurde. Silvana Schröder ist ihrem besonderen Blick auf Tradiertes treu geblieben und inszeniert „Giselle“ überzeugend als schockierendes Psychogramm einer gequälten Seele.
Das ahnt man schon, als vor der Ouvertüre das liebliche Wiegenlied von Brahms erklingt, mit dem noch heute Kinder in den Schlaf gesungen werden.
Danach allerdings ist Schluss mit lieblich, denn bereits die Bühne (Verena Hemmerlein) gibt den Weg vor, den diese Giselle gehen wird.
Ein graues Zimmer, mit Bett, Schrank, Stühlen spärlich eingerichtet, sorgt für beklemmende Gefühle. In einer Ecke spielt ein kleiner Junge, eine schwarz gekleidete Frau, bei Silvana Schröder verstorbene Mutter und Myrtha zugleich, wacht auf einem Stuhl. Und Giselle, isoliert von der Außenwelt, einsam und verloren in ihrem Bett, gibt sich Tagträumen hin und wird von Erinnerungen heimgesucht. Einzig das Tanzen und die schwärmerische Liebe zu Albrecht bestimmen ihr Leben. Dabei verliert sie nach und nach den Bezug zur Wirklichkeit, fühlt sich in ihrer Scheinwelt von Mutter /Myrtha und Bruder Hilarion bedroht und erkennt nicht, dass Albrecht keine Liebe, sondern Freundschaft für sie empfindet. (…)
Bei Silvana Schröder führt Giselles Tanz, bedrängt von Myrtha und deren Schatten, konsequent in den Wahnsinn. Am Ende des 1. Aktes zersticht sie sich ihre Füße. Der 2. Akt, in dem sogar das Zimmer Kopf steht, wird zum blutigen Rachefeldzug gegen alle, die ihre Träume zerstört haben. Das Opfer wird zur brutalen Täterin.
Daria Suzi tanzt Giselle leidenschaftlich und ausdrucksstark. Fast zwei Stunden beherrscht sie die Bühne, als naives, verwirrtes Mädchen, als liebende Frau und als furchterregender Racheengel. Großartig! Flip Kwacak als Albrecht begeistert im Duett mit ihr und in seinen Soli vor allem technisch und auch Vinicius Leme als Bruder Hilarion interpretiert seine Rolle als sorgender Bruder überzeugend. Mit einer Glanzleistung als Myrtha /Mutter brilliert einmal mehr Alina Dogodina. Schade, dass eine Maske ihr Gesicht verbirgt und ihr ein wenig die Ausstrahlung nimmt. Dennoch gelingt Alina Dogodina die anspruchsvolle Symbiose aus klassischem Tanz und modernen Bewegungsformen, die Silvana Schröder für sie kreiert hat, technisch versiert und mit starker Bühnenpräsenz.
Vor allem diese Verbindung aus modernem Tanz, Neoklassik und klassischen Elementen aus der Originalchoreografie machen diesen Ballettabend spannend. Bis ins kleinste Detail sind die Szenen durchdacht. Tanzt Giselle im ersten Akt noch auf Spitzenschuhen, tritt sie im zweiten mit Mullbinden an den Füßen auf. Das wirkt überaus verletzlich, insbesondere im Reigen mit den Willis, die klassisch elegant in weißen romantischen Tutus, geschminkt wie Mörderpuppen aus einem Horrorfilm, Giselles Rachefeldzug begleiten. Große Gefühle, an Romantik aber denkt da wohl keiner mehr.
Romantisches Flair im Überfluss dagegen erlebt das Premierenpublikum mit den Musikern des Philharmonische Orchesters Erfurt, die Adolphe Adams zauberhaftes Werk unter der sensiblen Leitung des jungen japanischen Pianisten und Dirigenten Takahiro Nagasaki von Theater&Philharmonie Thüringen zum Strahlen bringen.
Merker Online – 11.11.2018 – Werner Häußner
ERFURT: GISELLE. Ballett-Premiere
Die Willis, das sind Elementargeister der Luft, ätherisch-gefährliche Wesen und nach einer von Heinrich Heine überlieferten Sage blühende Bräute, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind und nun im Mondglanz die Unglücklichen, derer sie habhaft werden, zu Tode tanzen. In Silvana Schröders Deutung von Adolphe Adams Ballett-Klassiker vervielfältigt sich das Mädchen Giselle im zweiten Akt zu einer Verderben bringenden Schar gespenstischer Wesen mit finsteren Augenhöhlen, aus denen schwarzes Blut über die Wangen auf die schneeweißen Mieder tropft. Diese Wesen sind materialisierte Projektionen von Verzweiflung und Rachegefühl, entsprungen aus einer gebrochenen Seele, der die Direktorin des Thüringer Staatsballetts einen komplexen psychischen Entwicklungsprozess eingeschrieben hat.
In ihrer Choreografie, die am Theater Erfurt eine bejubelte Uraufführung erlebt hat, verändert Silvana Schröder die Vorlage von Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint- Georges erheblich, ohne ihr Gewalt anzutun, im Gegenteil: „Giselle“ rückt in dieser Lesart weg vom zeitbedingten Schauwert, den Adligen und Bauern des Genres, damit freilich auch weg von seiner behutsam formulierten Sozialkritik. So aber wird die Nähe zu E.T.A. Hoffmann und zur Gespensterromantik betont – und damit die psychologischen Nachtseiten des Stücks herausgearbeitet.
Auch in ihrer Tanzsprache verlässt Schröder die als klassisch geltende, tatsächlich aber eine ganze Generation von der Ursprungs-Choreographie entfernte Ikone Marius Petipa. Zwar geht sie von der klassischen Spitzentanz-Tradition aus, baut aber Erinnerungen und Zitaten in eine kraftvolle, eigen geprägte Bewegungssprache ein, die eher an den noch stark pantomimisch geprägten Ursprung der „Giselle“ von Jules Perrot und Jean Coralli von 1841 anknüpft. Tanz nicht als ästhetischer Selbstzweck, sondern als vitaler Ausdruck psychischer Dynamik.
Giselle ist in ihrer Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit bedrängt vom ambivalenten Schatten einer dominanten Mutterfigur, die sie zum Erwachsenwerden antreiben will, aber auch ihre existenziellen Lebensäußerungen – symbolisiert durch den Tanz – in Frage stellt. Die Mutter Berthe des ersten Akts und die Geisterkönigin Myrtha des zweiten gehen in dieser dunklen Erscheinung auf. Hilarion mutiert vom nicht erhörten, verliebten Wildhüter zum besorgten Bruder Giselles, der die Gefahren für das sich immer weiter in ihrer Fantasiewelt einspinnenden Mädchens sieht.
Und Albrecht ist nicht der Adlige, der sich als Bauer ausgibt, um das naive Mädchen zu verführen, sondern ein junger Mann, der Giselle in respektvoller Freundschaft verbunden ist, aber eine andere Frau – Bathilde – liebt. Die schwärmerische Giselle jedoch sieht in der Zuneigung Albrechts die Zeichen der großen Liebe und projiziert ihre Gefühle auf ihn: Erst die desillusionierende Begegnung am Ende des ersten Akts öffnet ihr die Augen. Giselle verstümmelt in einem Akt der Raserei ihre Füße und raubt sich ihr eigenes Ausdrucksmittel, den Tanz: Verstummen aus Verzweiflung.
Von Anfang an exponiert Schröder die Spannung zwischen Realität und Illusion, wenn Hilarion, noch bevor die Musik einsetzt, zur Spieluhren-Melodie von „Guten Abend, gut Nacht …“ eine sich drehende automatische Tänzerin betrachtet. Daria Suzi bildet in ihrer Körpersprache das Kind ab, aus dessen Perspektive Verena Hemmerlein ein nüchternes, riesiges Zimmer gebaut hat, zwischen dessen überdimensionierten Möbeln, Fenster und Tür der schwerelose Tanz immer drückender und bedrückter wird. Suzi kommuniziert die Last, die auf dem jungen Mädchen liegt – und die Befreiung: Wenn die vermeintliche große Liebe Albrecht auftritt, geht die Sonne auf, erhellt sich das Zwielicht (Torsten Bante macht einen wunderbaren Job) und fliegt Suzi wie einst Carlotta Grisi auf das Objekt ihrer Sehnsucht zu.
Aber Filip Kvačák macht als Albrecht von Anfang an unmissverständlich deutlich, dass er die Schwärmerei des Mädchens nicht teilt. Schröder und ihren Darstellern gelingt in subtil gestalteten Szenen eine eindrucksvolle Visualisierung psychischer Zustände im Tanz – kulminierend in dem berührenden Moment, in der Giselle erkennen muss, dass ihr Affekt nicht geteilt wird. In der Interaktion mit Filip Kvačák und der überraschten, ratlos berührten Carolina Micone als Bathilde wird die ganze innere Dramatik des Geschehens in atemlos konzentrierten Minuten offenbar. Giselle „wird“ von den schwarzen Schatten – das minutiös präzise Corps de Ballett – zu Tode getanzt; bildwirksam bemächtigt sich schwarzer Saft der Wände des Raumes.
Für den zweiten Akt dreht Verena Hemmerlein ihren Raum um 90 Grad: Die riesige Tür, die Giselle nie durchschreiten konnte, wird zur Rampe für die Geisterbräute, die in den fahlen Seelenraum quellen. Alina Dogodina als Myrtha ist jetzt die Königin der Willis, die mit bestechender Fußarbeit ihren Bewegungen einen unwirklichen Zug gibt. Die gespenstische Giselle – von Verena Hemmerlein beziehungsreich in ein Korsett und das klassische, wadenlange Tutu gekleidet – vervielfacht sich. Den wilden Willis als Ausstoß ihrer Seelenpein fällt zuerst Hilarion – Vinicius Leme als präzis und diszipliniert agierender Tanzdarsteller – zum Opfer.
Das Ende erinnert mit der irrsinnigen Hinrichtung Albrechts beinahe an William Goldmans „Misery“ – aber Giselle, die ihrer untoten Existenz selbst kein Ende setzen kann, besitzt schließlich den begehrten Gegenstand, begräbt den bis zum Schluss großartig expressiven Filip Kvačák unter dem Tüll ihres Tanzkleides und erinnert, ihr goldenes Haar kämmend, an die männermordende Loreley. Alptraum-Ende eines Psycho-Thrillers. (…)
onlinemerker – 11.11.2018 – Larissa Gawritschenko, Thomas Janda
Giselle als getanztes Innenleben einer Betrogenen
Um es gleich vorweg zu sagen, Silvana Schröder erfindet ihre eigene Geschichte zur Musik von Adolphe Adam und weicht damit stark von der ursprünglichen Giselle-Geschichte ab. Sie entwickelt eine eigene Story und auch eine eigene Choreographie.
Das beginnt schon mit dem Bühnenbild und den Kostümen, entworfen von Verena Hemmerlein. Da ist ein kahler Raum mit Bett, das sieht schon gleich ein bisschen nach psychiatrischer Unterbringung aus. In jedem Fall zeigt es die Isolation Giselles. Myrtha, die verstorbene Mutter, erscheint als übermächtiger Geist mit Stock, und an Größe überragt sie die Lebenden, denn unter dem Kostüm stecken zwei Tänzer. (…) Albrecht erscheint in Silvana Schröders Geschichte und Choreographie als tröstender Freund und lässt sie noch einmal Augenblicke des Glücks erleben. Den frohen Tanz beendet Hilarion, Giselles Bruder, denn er weiß, dass Albrecht mit Bathilde schon verlobt ist. Giselle will das nicht wahrhaben. Erst als Bathilde leibhaftig erscheint, bricht ihre Traumwelt zusammen. Giselle verfällt dem Wahn und will sich zu Tode tanzen. In Silvana Schröders Choreographie erscheinen die Willis von Anfang an als dunkle Gestalten. Sie treten im Pulk auf und wirken als bedrohliche Masse.
Der zweite Akt zeigt Giselle mit verbundenen Füssen. Sie ist gebrochen und der Spaß ist vorbei. In einer verdrehten Welt halluziniert sie vor sich hin und ihr gesamtes Verhalten wird selbstzerstörerisch. Sie ersinnt von sich selbst Doppelgängerinnen. Als ihr Bruder Hilarion wieder einmal zu Besuch kommt, sieht sie in ihm den Feind und ihre Doppelgängerinnen tanzen ihn aus Rache zu Tode. (…)
Nun soll auch Albrecht für seinen Betrug büßen und die Giselle-Kopien umgarnen ihn. Natürlich fällt er darauf herein und nun beginnt der Tanz, der auch für ihn tödlich enden soll. Doch bei Giselle entflammt der letzte Liebesfunke und sie rettet ihn kurz vor seinem Ende. Auch er hat blutige Füße und bricht in Giselles Armen zusammen. (…)
Kraftvoll und erzählerisch eloquent wirken die Tänzer des Thüringer Staatsballetts auf der Erfurter Bühne und bekommen dafür viel Szenen- und Schlussapplaus. Die Mischung aus klassischen Tanzelementen und Tanztheater beherrschen sie perfekt und auch das schnelle Umschalten zwischen beiden Tanztypen gelingt mühelos.
Die Solo-Tänzer: Daria Suzi als Giselle, Alina Dogodina als Myrtha und Filip Kwacak als Albrecht sowie Vinicius Leme als Hilarion wirken in Tanz und Spiel perfekt und begeistern das Erfurter Publikum. Auch die anderen 22 Tänzerinnen und Tänzer des Thüringer Staatsballetts gemeinsam mit den 11 Eleven vermitteln pure Tanzfreude und Perfektion. (…)
Alles in allem war diese erste Premieren-Koproduktion ein gelungener Auftakt zu weiteren Koproduktionen zwischen dem Theater Erfurt und Gera.